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36. Jahrgang InternetAusgabe 2002
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Stefan George

 

3.

Drei sind des wissens grade

 

 In Georges letzten Lebensjahren, als das Weltrad immer schneller zur Leere niederrollte und dem freien Geist die Atemluft benahm, hat man aus Georges Werk vielfach nur noch den Aufruf zur Tat verstanden, und es mag eine Zeit kommen, in der allein von hier aus Georges Willen und Sendung gedeutet-mißdeutet wird. Über den wahren Sinn der Tat wäre viel zu sagen. An dieser Stelle genügte die Erkenntnis, daß auch die Tat nur gilt und sich bewährt als Tat im Reich des Geistes.

Dies ist reich des Geistes –

 so steht über der Eingangspforte zu Georges Reich zu lesen. Wo der Geist nicht weht, erstirbt des Dichters Wort. Wo das Gedicht wahrhaft zu klingen anhebt, hat auch der Geist Gewalt und Raum und Leben.

 Diese Tatsache ist von solch grundlegender Bedeutung für Georges Wesen, daß bei ihm stärker als bei den hohen Dichtern der Vergangenheit, stärker selbst als bei Goethe und in andrem Sinn als bei Dante, eine Darstellung seines Lebens und seines Werkes möglich und richtig wäre, die ihn als den vollkommenen Weisen zu fassen sucht. Dies setzt nicht Goethes, noch Dantes Weisheit herab. Die Weisheit Goethes besitzt ihre Macht und Dauer als Lebensregel des schönsten Enkels der Gäa und ist geadelt durch verzichtende und sich beschränkende Herbe. Die Weisheit Dantes besitzt ihre Kraft und Schönheit als dichterisches Gebild der Offenbarung und der Philosophie. Die Weisheit Georges aber ist darin umfassender und von eigener Art, daß sie alle Grade des Wissens durchmaß und in sich vereinigt.

 Drei Stufen der Wisser und also des Wissens kennt George. Sie lassen sich abgekürzt durch die Worte fassen. Blut, Geist und Offenbarung, – „Geist“ hier im Sinne des Platonischen Nous, als Teilstück des Georgeschen Geistes, der als Logos die drei Stufen in sich befasst. Hierdurch rückt seine Weisheit in die Nähe der vorplatonischen und der vorchristlichen, – man mag verwandte Züge bei Solon und auch bei Pindar suchen ..

 Vielleicht hing hiermit der eigene Zauber von Georges Menschlichkeit zusammen. Bei aller Abneigung gegen Humanitätsduselei war er von einer humanen Natürlichkeit, die jedes unverdorbene Kind des Volks empfand. Ein junger Gärtner gab wohl dieser Empfindung Ausdruck, als er im Park des Schloßbergs George sah und laut ausrief: Aber dieser Mann hat ja die Augen eines Rehs – das Freundlich-Unergründliche und Scheue hatte ihn gepackt. – Diese ursprüngliche Humanitas war es auch, die in George das Bäuerlich-Feste mit dem Seelisch-Zarten, jener unter Deutschen ungewohnten, unter Romanen häufigeren weltoffenen Urbanität zusammenband, – sein „römischer Hauch“, von dem er im Gedichte spricht, ist mindestens in gleichem Maße geistige wie leibliche Wirklichkeit.

 Wie aber kommt es, daß diese Georgesche Wirklichkeit so fernab liegt von dem Bild, das man sich allgemein von ihm und zumal von seinem Kreise machte? Der Grund ist wohl doch nur derselbe, der zur Verkennung fast aller Großen in ihrer eigenen Zeit führte: da sie die alten Ordnungen sprengen und selbst ein neues Maß setzen, passen sie in keine der üblichen überkommenen Kategorien des Lebens und zumal des Denkens hinein; doch wird allein mit deren Hilfe ihr Ja und Nein verstanden und das heißt dann zwangsläufig: mißverstanden. Jesu Wort, daß der Prophet nichts gilt in Vaterhaus und Vaterstadt und Vaterland, weist aus seiner grausamen Erfahrung heraus auf die schicksalhafte Notwendigkeit dieses Zwiespalts und begründet das tiefe Lebensgesetz, aus dem sich jede neue Gemeinschaft der Jünger bildet. Aber verstehen auch nur die Jünger alle und immer ihren Meister?

 Jeder Stufe des Wissens entspricht eine eigene Form der Verkennung. Dem höchsten Grad entspricht die vielfältigste Form, – aber ihre Geschichte prägen und schreiben erst die Jahrhunderte... Die tieferen Stufen Blut und Geist dagegen, die stärker mit Vergangenheit und Gegenwart verknüpft sind und weniger in die Zukunft weisen, unterlagen unabwendbar bereits dem Mißverstehen in ihrer Zeit, und manches herbe Wort hat darum schon George selbst gegen die Falschmünzer geschleudert. Die erste Stufe, die George als „geburt und leib“ oder als „blut“ beschwört, stand vor der zwiefachen Gefahr, vom Fortschritts- und vom Natur-Wahn der Zeit mißbraucht zu werden. Schon im Siebenten Ring warnt George darum vor den „Verführern“, die doppelte Ernte und doppelte Kelter versprechen und in ihrem Aberwitz nicht an die Stunde denken, da die ausgesogene, geschändete Erde die Frucht verweigert. Im Gespräch zeigte er seinen ökonomisch gebildeten Freunden und Jüngern, daß diese Warnung auch im geistigen Sinn zu verstehen, doch zunächst naturhaft, fast landwirtschaftlich gemeint ist. „Hat man noch nirgends festgestellt“, fragte er einmal, „daß der Boden durch dauernde Zufuhr künstlichen Düngers sauer wird?“ Auf die Antwort, daß der Dünger-Wechsel diese Folgen ausschließt, erwiderte er kurz: „Ausschließt? Wenn Sie aufschieben sagen, mags zutreffen“. – Ein ander Mal fragte er, ob auf den Universitäten noch der gleiche Unsinn als Bevölkerungspolitik vorgetragen werde wie zu seiner Zeit. Die Antwort, daß jetzt stärkerer Nachdruck auf den veränderten Altersaufbau, auf die Vergreisung der Völker gelegt werde, führte zum barschen Bescheid: „Darin stoßt Ihr Herren Gelehrten wieder einmal ins offizielle Horn und fordert, mehr zu hecken?? Von dieser Zoologie wollen wir verschont bleiben.“

 „Zoologie“ und „zoologisch“ waren die Kennworte, mit denen George gern nicht nur die geistferne Natur, sondern auch geistferne Schriften und Handlungen verwarf. Gelegentlich fand seine Ablehnung auch noch schärferen Ausdruck. So wenig er und die Seinen verschmähten, sich der neuen Technik als Hilfsmittel zu bedienen, so hart schritt er ein, wenn einer der Jüngeren irgend eine technische „Errungenschaft“ in irgend einem Sinn positiv bewertete. Als die Neckarlandschaft und der sanft fliegende Strom mit seinen lieblichen Wiesen und Uferweiden durch den Bau des Neckarkanals verschandelt und entwürdigt wurde, suchte Percy, – enfant terrible und Sohn seines Vaters –, dem Meister auseinanderzusetzen, hier werde ein volkswirtschaftlich wichtiges Werk geleistet. Als Erwiderung kam nur ein wegwerfendes: „Dreck!”

 Das Wort „Zoologie“ sagt deutlich, was George von allen Naturwissenschaftlern seiner Zeit und von allen Naturschwärmern und Naturschändern, die nach ihm folgten, abgrundtief trennte: auch die Natur galt in seinem Reiche nur als Stoff und Ausdruck des formenden Geistes. Man wird darum auch in Georges Gedichten, selbst im „Jahr der Seele“ nie eine reine Anschauung der Natur in der Art Goethes oder Hölderlins finden. Natur lebt für George als Bereich der Menschen und Götter, von Faun und Drud, Natur lebt als Spiegel und Born der Seele und sie verliert Kraft und Sinn und Frucht, wenn der Zauber der mächtigen Geister von ihr weicht. Darum war alle moderne Naturwissenschaft, und gar in ihrer von der Heidelberg-Freiburger Philosophenschule gelehrten Gegensätzlichkeit zur Kultur- oder Geisteswissenschaft, für George eine zoologische Angelegenheit, – darum war der Kampf der „Blätter“ gegen den sogenannten Naturalismus in der Kunst nicht ein bloßer Richtungsstreit, sondern ein Kampf um die höhere Lebenswirklichkeit in Kunst und Natur.

 Schon Wolters hat festgestellt, daß wie die Jugendbewegung von den Triebwellen getragen wurde, „die von den Mahn- und Fluchreden Nietzsches und der Dichtung Georges durch das deutsche Geistesleben fluteten”, so auch in den sogenannten Rassebewegungen nach dem Krieg mancherlei mißverstandener Georgianismus spukhaft beteiligt war. Dabei hat Wolters im Jahre 1929 noch spotten können über die „jetzt ebenfalls auftauchenden Rasseforscher“, die da „wünschten, schon bei der Paarung der Eltern für die Zeugung eines guten Nachwuchses Sorge zu tragen“ ... George erkannte schon viel früher die drohende Gefährdung seines deutschen Menschen. Als im Winter 1920/21 die Bücher eines der älteren Freunde „Norm und Verfall des Staates“ und „Norm und Entartung des Menschen“ erörterten, verwies er (11. Februar 1921) den allzuscharfen Tadel des Berichters, der die dilettantische Art der Behandlung beider Themen heftig beanstandete, und erklärte, daß immerhin der richtige Blickpunkt und die wichtige Fragestellung anzuerkennen sei. Aber ob solche Bücher an die Öffentlichkeit gehören, – diese Frage schien ihm sehr berechtigt. „Es ist sehr nötig“, sagte er, „den Menschen einzuhämmern, zu welcher Verschlechterung der Art Eure gerühmte Sozialpolitik geführt hat. Aber Rassenpolitik bedeutet keine Umkehr, sondern bösartige Steigerung des 19. Jahrhunderts.“ Eine neue, gute Rasse, fuhr er fort, schaffe nur der Geist, nicht eine Zucht-Anstalt. Man müsse sich damit abfinden, daß nie wieder ein Volk eine solch hohe natürliche Anlage besitzen werde wie einst die Athener. Schon am Ausgang der Antike, als die unverbrauchten Germanenstämme die Nachfolge der Römer antraten, habe erst die Vermählung mit den Romanen ein Neuerwachen des Geistes vorbereitet, und wie viel fremde Blutströme, – griechische und normannische, arabische und jüdische, – an der hohen Kultur der italienischen Renaissance und des zu wenig gekannten Spaniens entscheidend mitgewirkt hätten, sei nur zu ahnen. In dem heutigen, durch Jahrtausende erzeugten Rassenmischmasch noch von reinen Rassen zu sprechen, sei naturwissenschaftlicher Schwindel. „Was für Euch gilt, ist deutlich gesagt, und ich freue mich über Jeden, der wirklich von meiner Rasse ist. Dabei muß es sein Bewenden haben.“

 Die zweite Stufe des Wissens, die George „der zeiten buch und schule“ nennt und als deren Weg er „schaun und fassen“ bezeichnet, fand die nicht minder schwere, allgemeine Verkennung: George bestätige hierdurch die Notwendigkeit der Wissenschaft, wenn auch vielleicht in einer besonderen, lebendigen Form. So hat man in Anerkennung und Ablehnung von einer George-Wissenschaft viel gesprochen und geschrieben; und tatsächlich müßte jede Betrachtung der Wirkung Georges in Deutschland im zweiten und dritten Jahrzehnt dieses Saeculums vielleicht noch vor dem dichterischen den wissenschaftlichen Bezirk durchforschen. Wie sollte da der Fehlschluß ausbleiben, daß zum „Geist“ des Georgeschen Reichs weniger die Natur und die Offenbarung als die Wissenschaft zugehört oder daß zumindest eine enge Verwandtschaft zwischen jenem Geist und dieser Wissenschaft besteht?

 Es gibt eine ganze Anzahl von Sachverhalten, die diese Auffassung zu stützen scheinen. Betrachtet man die Werke der „Schau und Forschung“, die im Verlag Georg Bondi erschienen, so findet sich schon hier eine stattliche Reihe. Nimmt man die Werke von Angehörigen des Kreises in anderen Verlagen hinzu, so zeigt sich, daß „Georgianer“ auf den Gebieten der allgemeinen und der Literatur- und der Kunstgeschichte, der Philosophie und der Archäologie und der Ökonomie mit starken, oft führenden Leistungen hervortraten. Aber auch wenn man, die Berufe der vielen Freunde Georges mustert, die uns in unsrer Schilderung begegneten, und auch der vielen Nicht-Genannten, – sind nicht die Allermeisten Gelehrte oder Studenten gewesen? Und waren nicht selbst Dichter hohen Ranges wie Wolfskehl und Verwey zugleich sehr gelehrte Kenner des Schrifttums aller Zeiten?

 Und dennoch gilt Georges Dictum: „Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft.“

 Es ist bei jeder Sende und bei jeder Kür scharf zu scheiden zwischen dem Willen des Gründers und seiner Wirkung. Die Wirkung, die Gewinnung der Anhänger des engsten und der weiteren Kreise, jede Äußerung und jede Tat der echten und der falschen Jünger, – dies Alles vollzieht sich nach eigenem Gesetz und ist selbst zu Lebzeiten des Meisters oft seiner Eingriffsmöglichkeit und seinem Eingriffswillen entzogen. Der Meister kann vorleben, – aber in welcher Tiefe und welcher Breite die Jünger seinem Vorbild und seinem Anruf folgen, hängt nicht nur ab von seiner, hängt auch ab von ihrer Kraft. Man bedenke Georges frühe Verse an Gundolf, – sie enthalten die deutliche Minderwertung der größten wissenschaftlichen Forschung vor dem kleinsten dichterischen Gebild. Und dennoch hat George mit seinem Zeichen die meisten „wissenschaftlichen“ Werke Gundolfs ausgezeichnet, – nicht in Anerkennung „der“ Wissenschaft, – sondern in duldender Billigung dieser Wissenschaft, – vielleicht auch nur als schmerzliches Bekenntnis zu dem Geliebten ..

 Was aber ließ diese Wissenschaft dem Dichter als beachtlich oder zumindest erträglich erscheinen, im Gegensatz zu jener andern, allgemeinen, die er und seine Freunde als Alexandrinismus verwarfen? Von drei Seiten aus ist dies zu verdeutlichen: es ging um die Haltung des Gelehrten, um den Stoff der Betrachtung und um die Form der Darstellung. Für die Alexandrinisten ergab sich als Folge des Willens zur „Entzauberung” eine angeblich vorurteilsfreie, in Wirklichkeit bestenfalls kritisch-kühle, meist kritisch-zersetzende Haltung, – für George und seine Freunde und Schüler war in der Wissenschaft wie im Leben die Ehrfurcht oberstes Gebot, die Ehrfurcht vor allem Großen und Wertvollen. Schon hieraus drängte sich ein andrer Blickpunkt und eine andre Auswahl des Stoffes auf. Während für den Alexandrinisten Alles, was da west und wurlt, in gleicher Weise behandelnswürdiges Objekt ist, waren Wert und Größe, sichtbar und faßbar in Werk und Tat, für den Georgianer die Voraussetzung dafür, daß sein Auge auf ihnen ruhte, seine Arbeit um sie kreiste. Und schließlich die Form der Darstellung. Die meisten wissenschaftlichen Werke der Jahrhundertwende sind heute schon ob der sprachlichen Verwilderung in Vergessenheit geraten. Max Weber hatte wie stets den Mut zur Wahrhaftigkeit und nannte offen den Grund dieser Stilverwüstung: schöne Gestaltung und gepflegte Sprache erweckten Zweifel an der wissenschaftlichen Natur eines Buches und seines Verfassers! Demgegenüber galt für die Dichter und ihre gelehrten Freunde und Schüler als Gebot die „äußerste Sorge bei der Feilung der Gefüge”, das „Ringen nach der höchsten formalen Vollendung im Werke“ (Blätter fur die Kunst. 9. Folge), – eine runde, in sich geschlossene Darstellung, die die vollkommene Beherrschung des Stoffes voraussetzt, doch ihn niemals roh, sondern erst in vollendeter Gestaltung kund gibt.

 Und dennoch zum dritten Mal Georges Wort: „Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft“. So sehr in den wissenschaftlichen Werken des George-Kreises in wechselndem Grad – je nach der Kraft des Verfassers – ein Stück der gemeinsamen Haltung und des gemeinsamen Glaubens der Dichter-Freunde sichtbar wird, – es ist nur die zweite Stufe des Wissens, die hier beschritten wird:

Die letzte kennt nur wen der gott beschlief

 Zu dieser letzten führt nicht der Olympier Goethe, dem in anderer Zeit das Leben, wo man es nur packe, interessant sein durfte, sondern ruft allein der Seher, dem mitten im Umbruch das Leben selbst bedroht erscheint und Begehung und Bild die einzige Rettung bergen.

 Was hierbei Georges Stellung und seinem Urteil besonderes Gewicht gab und gibt, ist die Tatsache, daß er nie von einem Jenseits her, nie aus „Weltanschauung“ ein Buch oder eine Richtung ablehnte oder verdammte, sondern immer auf Grund genauester Kenntnis und Prüfung. Er hatte nicht nur in jungen Jahren das bedeutendste Schrifttum der Zeiten und Völker sich zu eigen gemacht, sondern noch im Mannesalter las er die wichtigsten Bücher, mit denen seine jungen Freunde sich befaßten, oder ließ sich aus ihnen vorlesen. Was ihn hierbei besonders erregte und verletzte, waren die gefeiertsten Werke der Philologie. Bücher des „pfäffischen“ Graecisten Wilamowitz oder die Dante-Behandlung des „schnoddrigen“ Romanisten Voßler konnten ihn so sehr erzürnen, daß er mehrfach im Gespräch darauf zurück kam, – meist in der Form, daß er seinen Hohn darüber ausgoß. „Was bleibt von dem ganzen Wilamops?“, sagte er einmal (6. Juli 1920). „Vielleicht der Schmutz, den er auf Nietzsches Rockschößen abgeladen hat.“

 Am heftigsten empörte ihn neben dumm-dreisten Einzelbemerkungen, in denen die selbstsicheren Gelehrten Homer und Dante, Pindar und Platon lobten, tadelten oder auf die Schulter klopften, ihre vollkommene Ahnungslosigkeit über das Wesen der Sprache, des Dichters und der Dichtung. „Könnt Ihr Euch vorstellen, ein Grieche oder Römer hätte über Poetik geschrieben und nicht zunächst von seinem Homer oder seinem Horaz das Wissen um die Dichtung bezogen? Heute kann Jemand den Geibel oder einen von den Monasyllaben (Als Monosyllaben faßte George die um 1920 vielgelesenen „expressionistischen“ Dichter zusammen, deren Namen meist einsilbig war.) für einen großen Dichter halten und erlaubt sich doch, ein Buch über Homer zu schreiben – und Ihr lests noch und nehmt es ernst.” Auf den Einwand, daß die kritischen Philologen doch Wichtiges zur Reinigung und Wiederherstellung der alten Texte getan haben, erwiderte er: „Vielleicht in Einzelfällen. Aber seid vorsichtig und traut ihnen nicht zu viel.“ Zu beanstanden sei vor Allem die philologische Erziehung, die Koniektur und Korrektur und nicht das Verständnis der überlieferten Texte als Ziel propagiere. Ob wir etwa glaubten, die dürren Philologie-Studenten von heute mit ihren gereinigten Teubner-Texten hätten nur halb so viel Ahnung von der Antike als vor hundert Jahren die Insassen des Tübinger Stifts mit ihren „schlechten“ Texten und armseligen Hilfsmitteln?

 Ein ander Mal (29. September 1920) verwies George auf seine Erfahrungen mit Germanisten und Romanisten, – Erfahrungen, die jeder von uns auch machen könne und werde. Er sehe ganz ab von dem Unsinn, den bekannteste Koryphäen über die neue Dichtung zu Tag gefördert hätten; er verweise nur auf die vielen Besprechungen der Sammlung „Deutsche Dichtung”. Nicht ein einziger der Recensenten habe ein einziges Geheimnis bemerkt, – „es fehlt diesen besoldeten Literatur-Päpsten nicht nur das Organ für den eigenen Ton jedes Dichters, sondern es fehlen ihnen einfach auch die Kenntnisse.“ – Man solle nur einmal die Probe machen, ob Jemand von der Zunft in den „Blättern für die Kunst“ die nicht-genannten Verfasser-Namen richtig einzufügen wisse. Aber die gleichen Herren, die hier versagten, trauten sich dann zu, mit unfehlbarer Sicherheit in Werken der Frühzeit Einschübe, Weglassungen, Überarbeitungen festzustellen!

 Von diesem Standpunkt aus, der den Philologen seiner Zeit nicht nur den Sinn für die Dichtung und für das Schöne, sondern auch das fachliche Wissen, dessen sie sich rühmten, mit schlagenden Beispielen abstritt, wäre für einen Andern als George der Einsatz für eine neue Wissenschaft möglich gewesen. Aber des Dichters Einsatz galt dem neuen Menschen. Darum war ihm jede Wissenschaft als Ausdruck einer vergehenden Spätzeit bedenklich, und er war empört, als einer von Gundolfs Freunden Max Weber im Namen einer neuen Wissenschaft entgegentrat, – doppelt empört, daß dies Buch ohne sein Wissen bei Georg Bondi erschien. Denn wenn die Schrift auch nicht das Zeichen der Bücher des Kreises trug, so befürchtete der Meister – wie sich schnell zeigte: mit gutem Grund –, daß Fernerstehende hier seine Ansicht über einen „Beruf der Wissenschaft“ niedergelegt glauben könnten. In diesem einen Falle hat er daher auch das Gebot durchbrochen, das jede öffentliche Stellungnahme selbst gegen fernstehende Freunde verwehrte, und hat – zu Gundolfs  Schrecken – durch den Berichter auf einem Soziologischen Diskussionsabend ausdrücklich erklären lassen: das fragliche Buch sei eine Privatangelegenheit des Verfassers und habe nichts mit der Auffassung des George-Kreises zu tun.

 Sonst aber war es selbstverständliche Freundespflicht, die Freunde und ihre Werke zu decken, und wer eine abweichende Ansicht vertrat, hatte zumindest in der Öffentlichkeit zu schweigen. Die unvermeidliche Folge, daß Georges Standpunkt mit den wissenschaftlichem Werken seiner Freunde identifiziert wurde, mußte in Kauf genommen werden. Aber Georges Placet bedeutete nur, daß er gegen die Veröffentlichung in dieser Form nichts einzuwenden hatte. Selbst wenn er, – was vorkam und was der seltene, mit feinen Sinnen begabte und im Hinhören auf Ton- und Stil-Nuancen geschulte Leser nicht verkennen wird, – Änderungen vornahm oder ganze Sätze zufügte, so blieb die Grundtatsache der Distanz ganz unberührt. Dies gilt naturgemäß in besonderer Stärke für die Bücher, die sich mit ihm, seiner Dichtung und seiner Bewegung befaßten, – obwohl man seltsamerweise das große Buch von Wolters als authentische Äußerung des Meisters mißverstand. Daß George trotz aller eigenen Bedenken und trotz aller Bedenken des Verfassers das Manuskript des totkranken Freundes drucken ließ, wird erst eine Zeit zu schätzen wissen, die über die unleugbaren Schwächen des Werkes hinwegliest, dankbar daß ihr hier ein einzigartiges Material doch über alle Untergänge hinweg bewahrt wurde. Und diese Zeit wird leichter als die eben vergehende vor dem Schutt der Überlieferung sich eingestehen, daß über alle Einwände hinweg Wolters’ tragende Überzeugung sich bewährt: die Deutsche Geistesgeschichte von 1890 – 1928 ist die Geschichte Georges und seiner Freunde, – was ihr Atem nicht durchdrang, ihre Glut nicht belebte oder nicht wenigstens ihre Leidenschaft für wert der Bekämpfung hielt, ist „nacht und nichts”.

 Wenn in diese Nacht auch die meisten wissenschaftlichen Werke des Freundeskreises mit-hinein stürzen sollten, – George wäre der letzte gewesen, sich drob zu verwundern. Denn darum weil das Sinn- und das Klangnetz zu Ende gesponnen, darum weil das Jahrhundert der Musik und der Philosophie bis zur Hefe sich ausgelebt und ausgewirkt hatte, darum rief er dem größren „wunderwerk der endlichkeit“ und darum barg er seine Weisheit im Gedicht als dem runden Gebilde, das allen Gefahren der rechten und der mißbräuchlichen Deutung unangetastet zu trotzen vermag. In anderen Epochen mögen andere Gewalten die Glieder eines geistigen Reichs gebunden haben und einstens wieder binden, – in dieser Spanne war dichterisch bewegt und dichterisch ergriffen zu sein das eigentliche Zeichen der Träger des Geistes. Wessen Seele aber Dichtung überhaupt anzurühren vermochte, der mußte – beglückt oder auch widerwillig – bekennen, daß für diese Wendezeit George der „Meister derer war, die wissen” und daß allein aus seinem Hain der Weihe brausend das neue Lied des Geistes klingen konnte:

Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer

Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.